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Unsere Älteste: Glocke Anna

Jeder hört sie, fast niemand kennt sie persönlich. Zu laut, zu leise, zu früh, zu spät, zu oft, nicht oft genug. Dabei verrichtet die Vielgescholtene seit 1456 ihren Dienst zuverlässig.Selbst zu den Zeiten der beidenWeltkriege, als zwei bzw. drei Kolleginnen ihrer Aufgaben enthoben und eingeschmolzenwurden. Ihr arbeitsrechtlich und brandschutztechnisch bedenklicher Arbeitsplatz ist der zugige, düstere Glockenturm der Evangelischen Kirche. Nach dem Zweiten Weltkrieg kann sie sich ihre Aufgaben erst zwanzig Jahre später wieder mit drei neuen, schwergewichtigen Kolleginnen teilen. Endlich, denn für die kleine Anna war das mehrfache Geläute am Tag eine permanente Überforderung. Trotz der Unterstützung kam 1983 der Zusammenbruch. Burn out? Zusätzlich zu allem Ungemach erfuhr man wenig später, dass in all den Jahren ihrer treuen Pflichterfüllung ohne Krankentage nicht einmal ihr Name richtig benannt wurde. Wurde einfach vergessen, ging im Laufe der Zeit verloren, war nicht so wichtig! Klarer Fall von Mobbing! Nein, das hatte sie wirklich nicht verdient. Die schrittweise Wiedergutmachung bis hin zu einer grandiosen Karriere verlief versöhnlich: 1985 wurde sie bei der Reparatur vom Staub der Jahrhunderte befreit. Und endlich war er wieder sichtbar, ihr richtiger Name: SV ANNA. Es war ein Festtag. Etwas peinlich für die Igstadter, die 1955 die Susannastraße nach ihr benannt hatten. Die Benennung blieb, sie ist zwar falsch, aber nun weiß es wenigstens jeder. Ein V ist kein U! Und die Glocke heißt SV ANNA und nicht S U SANNA. SV steht für Sancta Virgo. Der Irrtum beruht auf einem Lesefehler, der Straßenname ist dennoch schön. 2011, nach beachtlichen 555 Jahren im Läutedienst, gab es erneut ein Schwächeln: Die Befestigung des Klöppels war mürbe, der Klöppel schlug nicht mehr sauber an und ihr Klang hörte sich seltsam schräg an. Nach erfolgter Reparatur wurde sie von einer weiteren Pflicht entbunden. Das Vaterunser- Läuten übernahm ab sofort ihre größte und kräftigste Kollegin, die Auferstehungsglocke. Ein wirklich junger Hüpfer im Vergleich zu ihr. Nun, kritisch betrachtet, auch der Lauf der Zeit hätte für diese Entlastung gesorgt, denn es werden ja nicht mehr viele Gottesdienste in der Kirche gefeiert.

Ein überaus großes Glückgefühl überkam die ehrwürdige Anna 2017 mit der Einschätzung von Dr. Susanne Claußen in ihrem Buch „Reformation wagen. Das Beispiel Wiesbaden und Umgebung“ (Wiesbaden 2017). Die Wiesbadener Historikerin dokumentiert, dass die Igstadter Glocke SV ANNA die älteste Glocke sei, die im Wiesbadener Raum erhalten ist und noch immer im Dienst steht. Welch ein später Triumph! Welche Karriere! Wir gratulieren.

Ingrid Dahl

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